Über mentale Gesundheit zu sprechen, ist wichtig. Vor allem Social Media hat dazu beigetragen, das Tabu zu brechen und Aufklärung zu betreiben. Doch Hobbypsycholog:innen nehmen diese Möglichkeit gerne zu ernst und füllen ihre Accounts mit Möchtegern-Expertise. Hier wird’s gefährlich, spätestens bei der Selbst- und Fremddiagnose.
Hobbypsycholog:innen sind nicht diejenigen, die tatsächlich eine Ausbildung als Psychotherapeut:in oder Psychiater:in haben und über mentale Gesundheit aufklären. Angesprochen sollen sich jene Laien-Expert:innen fühlen, die ihr Halbwissen bewusst und ohne nachzudenken verbreiten und dabei vermutlich nicht einmal den Unterschied zwischen Therapeut:in und Psycholog:in kennen.
Halbwissen wird zur Gefahr
„An diesen drei Anzeichen habe ich gemerkt, dass ich narzisstisch bin. Bist du es auch?“ Solche Videos verbreiten sich beispielsweise auf Instagram wie ein Lauffeuer und stehen sinnbildlich für Unprofessionalität und Fehlinformation. Hinter solchen Accounts verbergen sich meist Menschen, die sich zunächst privat mit mentaler Gesundheit auseinandersetzen. So weit so sinnvoll. Leider fehlt diesen Personen häufig die fachliche Expertise und somit verbreiten sie gefährliches Halbwissen. Dies schadet vor allem denjenigen, die online nach Erklärungen für ihre Gefühle, Gedanken oder Verhaltensweisen suchen.
Was niemand weiß, macht niemanden heiß
Besonders anziehend und beliebt in den Instagram-Biografien solcher Laien-Psycholog:innen ist das Wort „Coach“. Ein Begriff, der nicht geschützt ist und deshalb von jedem verwendet werden darf. Für Unwissende wirkt diese Zuschreibung vertrauenswürdig. Dies wird ausgenutzt, um vermeintliche Diagnosen über das Internet zu stellen. Sind das besonders intuitive Talente? Nein, sie sind nur besonders schamlos und unverantwortlich.
Sorry, aber ich bin so
Einmal in der Hobbypsycholog:innen-Bubble falsch abgebogen und plötzlich steht die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung vor einem. Im schlimmsten Fall schenkt man dieser vermeintlichen Diagnose Glauben und nimmt sie als Ausrede für das eigene Verhalten: „Ich habe mich nicht nach dir erkundigt? Sorry, da kam wohl die Narzisstin in mir raus, ich bin einfach so.“ Mit einer Fremd- oder Selbstdiagnose wird die Verantwortung abgelegt und das Schutzschild gegen jegliche Kritik aufgestellt.
Abgestempelt
Nicht nur die fehlende Verantwortung für eigene Taten ist fatal. Auch das Stigmatisieren durch Außenstehende richtet große Schäden an. Wer einmal fälschlicherweise diagnostiziert wird, wird den Stempel nicht mehr so leicht los. Statt wirklich Hilfe zu bekommen, vergrößern sich Probleme und es geht Betroffenen noch schlechter als zuvor.
Therapie? Ich habe das Internet.
Die Folgen der Diagnosen aus dem Internet sind bitter. Menschen, die offensichtlich Hilfe brauchen, wenden sich nicht mehr an Expert:innen. Wozu auch? Auf Instagram haben sie bereits eine Erklärung für ihr Verhalten gefunden. Betroffene glauben, die Wahrheit zu kennen und sich bereits Hilfe geholt zu haben. Ein Faustschlag für all jene, die sich ihre Expertise durch eine jahrelange Ausbildung erarbeitet haben.
Und der Kaninchenbau rührt die Werbetrommel
Warum aber verbreiten sich solche Accounts trotz fehlender Expertise? Die Antwort liegt im sogenannten Rabbit Hole-Effekt. Wer sich ein Video für ein paar Sekunden anschaut – beispielsweise weil man sich für das Thema Gesundheit interessiert – liefert dem Algorithmus der Plattform das Signal: „Mehr davon.“ Und genau das passiert. Denn schon beim nächsten Öffnen der App wird ein ähnliches Video vorgeschlagen – und das Spiel beginnt von vorn. Der Algorithmus erkennt Muster, Vorlieben und Sehgewohnheiten. Doch warum klicken Nutzer:innen überhaupt auf solche Videos? Weil sie komplexe Themen auf scheinbar einfache Weise verpacken. Und so wird aus einem harmlosen Klick eine Kettenreaktion – und die Falle schnappt zu.
Am Ende bleibt kein gutes Wort stehen. Was spätestens jetzt klar sein sollte: Mit Halbwissen und vermeintlichen Diagnosen im Internet zu jonglieren und dabei wirklich verzweifelte Menschen auszunutzen, ist unverantwortlich und falsch. Ebenso verantwortungslos ist es, sich selbst zu diagnostizieren und damit das eigene Verhalten zu entschuldigen. Wer jetzt immer noch denkt, dass Videos aus dem Internet tatsächlich eine Therapie ersetzen können, braucht wirklich Hilfe.
Foto von Alex Green (pexels)