Demenz ist eine Diagnose, die das Leben von Betroffenen schlagartig ändert. Doch bei der Thematisierung dieser Krankheit wird eine wichtige Personengruppe oftmals außer Acht gelassen, die oft ebenfalls unter dieser Diagnose leidet: die Angehörigen. Unsere Autorin hat mit einem Demenzberater und einer Betroffenen gesprochen.
Der Experte
Ulrich Gsenger ist Leiter der Tagesbetreuung Aigen und Demenzberater. Täglich arbeitet er mit demenzkranken Menschen zusammen und setzt sich intensiv mit der Thematik auseinander. Er betont, dass in der Diskussion rund um die Krankheit vor allem die Angehörigen der Betroffenen zu wenig ins Licht gerückt werden. Seiner Meinung nach sei dies auf die Stigmatisierung zurückzuführen.
„Da das Thema grundsätzlich mit Scham behaftet ist, kommt man oft nicht in die Tiefe über mehr nachzudenken als über die Betroffenen.“ Angehörige seien dabei stärker von der Diagnose betroffen als die demenzkranken Menschen selbst.
„Letztes Jahr habe ich 400 Beratungen durchgeführt. Davon waren acht Betroffene und der Rest Angehörige“.
Letztere erleben starke Gefühle, ausgelöst durch die Krankheit einer nahestehenden Person. Denn durch die Demenz vergessen Betroffene nicht nur die gemeinsamen Erlebnisse, sondern verändern sich oftmals so sehr, dass es auf Angehörige wie ein Tod wirkt. „Ein dominantes Gefühl ist Trauer. Sie wird aber meist von den Angehörigen verdrängt.“
Wichtig bei der Bewältigung sei es, alle Gefühle zuzulassen. „Es gibt vier Trauerphasen und nur wenn man diese durchlebt, kommt man zur Akzeptanz. Und nur wenn man in die Akzeptanz kommt, kann man demente Menschen gut betreuen.“ Eine dieser Trauerphasen sei die Wut, die ausgelöst durch das schlechte Gewissen oft von den Angehörigen unterdrückt wird und den Weg zur Akzeptanz blockiert. „Ein weiteres dominantes Gefühl ist das Verlassenwerden. Ein pflegender Angehöriger fühlt sich verlassen vom System, vom sozialen Umfeld und das Dritte gesteht sich niemand ein: verlassen vom Betroffenen selbst.“
Emotional überwältigt nach der Diagnose sehen es die meisten Angehörigen als ihre Pflicht, sich um die Betroffenen zu kümmern. „Das ist ein gesellschaftliches Problem“, so der Demenzberater. In Beratungsgesprächen versucht er zu erklären, wie intensiv und herausfordernd die Pflege wirklich ist:
„Ich beschreibe ihnen die harte Arbeit, die sie leisten müssen, wie schwer die Erkrankung ist und gebe ihnen Bilder dazu: Wissen Sie, was Sie gerade machen? Sie tragen 800kg auf den Untersberg.“
Überforderung der Angehörigen in der Pflege wirke sich nämlich auch auf die Betroffenen aus. So sei Niemandem geholfen. Deshalb ist für pflegende Angehörige eine Balance zwischen dem eigenen Leben und der Betreuung relevant. „Das Wissen um die Krankheit ist der Schlüssel.“, ist sich Gsenger sicher. Denn viele Angehörige sehen nicht, dass die Demenz zu den schwersten Krankheiten gehört.
Um dabei selbst gesund zu bleiben, sind vor allem soziale Kontakte und Unterstützung wichtig, die die Angehörigen aus Überforderung und Erschöpfung aber oft vernachlässigen. Ausgelöst dadurch, übersehen Angehörige oftmals den Zeitpunkt, an dem eine Pflege zuhause nicht mehr möglich ist. „Wenn eine 24-Stunden-Anwesenheit notwendig ist, wäre der Zeitpunkt gekommen.“, erklärt der Demenzberater. Für ihn gilt dabei der Grundsatz: „Je früher, desto besser. Man sollte einen Schritt früher anfangen, als man es braucht.“ Es sei nicht zielführend zu warten, bis man als angehörige Person überfordert ist. Ein Tageszentrum kann hier eine Lösung sein, in welches demenzkranke Menschen ein- bis zweimal in der Woche kommen. Auch 24-Stunden-Hilfen sowie ein Senior:innenheim sind Möglichkeiten, die Angehörigen zu entlasten. Solche Optionen solle man sich bereits als Plan B vorbereiten, denn „nichts zu tun, endet im Chaos.“
Der Demenzberater betont neben den Herausforderungen aber auch die positiven Aspekte der Pflege:
„Es gibt wenig Menschen, die so ursprünglich Mensch sind, wie Demente. Sie haben nur einen Anspruch: das Jetzt.“
Durch den Austausch mit ihnen lerne man mehr im Hier und Jetzt zu leben.
Die Betroffene
An diesen Punkt zu gelangen, war für Irmgard O. aus Adnet lange undenkbar. Seit drei Jahren leben sie und ihre demenzkranke Mutter mit der Diagnose. Im Juni 2021 erlitt diese einen Schlaganfall. Nach drei Wochen im Krankenhaus erhielt Irmgards Mutter dann die Diagnose:
„Als das erste Mal das Wort Demenz gefallen ist, da habe ich das nicht akzeptiert und es weggeschoben.“
Irmgard wusste damals noch nicht, was die Diagnose für Angehörige bedeutet und verleugnete die Realität. Ein Buch für pflegende Angehörige als Geschenk brachte in ihr dann die innersten Gedanken hervor: „Nein, ich bin keine pflegende Angehörige. Ich will das nicht sein.“
Obwohl für sie von Anfang an klar war, dass sie ihre Mutter pflegen würde, verspürte die Salzburgerin anfangs den Drang nach Freiheit. Denn durch die Diagnose veränderte sich der Alltag drastisch.
„Ich musste viel von meiner Zeit und meiner Energie für meine Mutter zur Verfügung stellen. Die verbleibende wenige Zeit muss man nutzen, um selbst gesund zu bleiben.“
An Freizeit war für die Angehörige nicht zu denken. Jeder Besuch war eine zusätzliche Anstrengung. In dieser Phase hatte sie das Gefühl, kein eigenes Leben mehr zu haben. „Es war immer die größte Herausforderung, dass es meine Mutter ist. Das ist natürlich sehr mit Emotionen gekoppelt.“
Drei Monate lang war Irmgard zuhause auf Pflegefreistellung und kümmerte sich um sie. Ständiger Begleiter waren ihre Zweifel: „Ich wusste nicht, was ich richtig oder falsch mache, was ich machen muss und wie es weitergeht.“ Hilfe holen konnte sie sich damals noch nicht, aus Überforderung: „Ich war emotional so in einem Angstzustand, dass ich gelähmt war. Ich habe nur für meine Mutter funktioniert.“ Die Situation belastete die Tochter der Demenzerkrankten damals sehr.
„Man verliert den Menschen. Der stirbt irgendwie. Der ist nicht mehr so da, wie er mal da war. Er wird weniger von sich.“
Nach drei Monaten Pflegefreistellung ging es Irmgards Mutter besser. Auf Pflege war sie dennoch angewiesen: „Ich habe ihr Zettel geschrieben, essen vorgekocht und Wasser hingestellt, weil sie dehydriert war.“ Nach zwei Jahren Pflege kam dann ein Schlüsselmoment: „Ich habe nervliche Probleme bekommen, konnte mich in der Arbeit nicht mehr konzentrieren. Es war bei mir immer ein extremer Angstzustand.“ An diesem Punkt habe sie gemerkt, dass sich etwas ändern müsse. Eine wöchentliche Hilfskraft nahm Irmgard das Putzen ab. Seit mittlerweile einem Jahr hat ihre Mutter auch eine 24-Stunden-Hilfe.
Zwei Jahre lang hat sie ihre Mutter allein gepflegt und betreut. Heute bekommt sie Hilfe und hat wieder mehr Zeit für sich: „Momentan fühle ich mich gut. Jetzt ist wieder mehr Balance da, aber das hat ganz lange gedauert.“ Nichtsdestotrotz gibt es auch andere Momente: „Wir wohnen im selben Haus, da ist man immer irgendwie angehängt.“ Ein Weg für Irmgard mit der Situation umzugehen, ist Meditation und die Arbeit mit Affirmationen. Mittlerweile nutzt sie auch vereinzelt Angebote für Angehörige. In Zukunft möchte sie auch zu Angehörigen-Treffen gehen und sich mit anderen austauschen. „Jetzt stehe ich offener dazu. Ich weiß gar nicht, was sich geändert hat. Ich glaube es ist die Akzeptanz.“ Anderen Angehörigen rät die Salzburgerin sich von Anfang an Hilfe zu suchen und sie zuzulassen.
Verändert hat sich seit Juni 2021 Einiges, so auch die Beziehung zu ihrer Mutter. „Die Gespräche werden anders, es geht um das Aktuelle, um das Jetzt.“ Die Beziehung wurde auch liebevoller. Denn obwohl Irmgards Mutter ihre Tochter nicht immer erkennt und sie oft für ihre Schwester oder ihre Mutter hält, „weiß sie immer, dass ich ein Mensch bin, der sie lieb hat und den sie lieb hat.“ Durch die Demenz lernte die pflegende Angehörige nicht nur ihre Mutter, sondern auch sich selbst neu kennen:
„Ich habe gelernt, dass ich auch leben darf und dass die Zeit wunderschön ist, in der wir hier sind.“
Hilfe & Analufstellen:
Demenzberatung Österreich: https://www.gesundheit.gv.at/service/beratungsstellen/krankheiten/gehirn-nerven/demenz-beratung.html
Demenzberatung Deutschland: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/aeltere-menschen/demenz/informationen-fuer-demenzkranke-und-angehoerige/informationen-fuer-menschen-mit-demenz-und-ihre-angehoerigen-77348