Die Botanikerin Amalie Dietrich entschied sich für ein Leben im Dienst der Wissenschaft und brach mit dem damaligen Rollenbild. Anlässlich ihres 200. Geburtstages sprechen wir mit der Historikerin Sabine Veits-Falk über das Leben der Naturforscherin und Frauen in der Wissenschaft.
Das Leben der Amalie Dietrich
Am 26. Mai 1821 kommt Amalie Dietrich als Tochter einer armen Heimarbeiter*innenfamilie im sächsischen Siebenlehn zur Welt. Durch ihre kräuterkundige Mutter hat sie schon von klein auf Kontakt mit Pflanzen und Kräutern. Darüber hinaus wird ihr – für Mädchen in der damaligen Zeit üblich – jedoch nur eine dürftige Grundschulausbildung zuteil.
Im Alter von 25 Jahren heiratet die Sächsin den Apotheker Wilhelm Dietrich, der sich im Selbststudium der Botanik widmet und über den sie zur Wissenschaft kommt. Nach der Hochzeit gibt er seine Stellung als Apotheker auf. Fortan bestreitet das Ehepaar seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Pflanzen. Sie unternehmen Sammeltouren durch ganz Deutschland, die 1848 geborene Tochter wird in dieser Zeit zu Pflegefamilien gegeben.
Unter anderem durchquert Amalie Dietrich auch elf Wochen lang die Salzburger Alpen, um die dortige Flora näher unter die Lupe zu nehmen. Ihre größte Forschungsreise führt sie jedoch nach Australien, wo sie sich zehn Jahre lang auf die Suche nach unbekannten Spezies gibt – und fündig wird. Über tausend neue Pflanzen- und Tierarten schickt die Naturforscherin während dieser Zeit nach Europa. Mit ihrer Arbeit trägt sie zu einem enormen Erkenntnisgewinn in der Botanik und weiteren wissenschaftlichen Disziplinen bei und liefert gleichzeitig die Grundlage für Forschung und Lehre. 1891 stirbt Amalie Dietrich schließlich im Alter von 70 Jahren – nach einem Leben ganz im Zeichen der Wissenschaft.
Sabine Veits-Falk
Die Historikerin Dr. Sabine Veits-Falk beschäftigt sich in ihren Forschungen unter anderem mit Geschlechtergeschichte und den Biografien außergewöhnlicher Frauen — etwa mit jener von Rosa Kerschbaumer-Putjata, der ersten Ärztin Österreichs. „Es geht dabei nicht nur darum, spannende Geschichten zu erzählen, sondern diese immer im Kontext zu den Verhältnissen der damaligen Zeit zu setzen. Was war Frauen damals überhaupt möglich? Ist das, was sie gemacht haben, etwas Normales oder doch etwas Außergewöhnliches? Welche Hürden mussten Frauen überwinden? Inwiefern haben sie Geschlechtergrenzen übertreten? Das sind Fragen, die mich beschäftigen“, beschreibt Veits-Falk ihre Arbeit. Im Interview geht es um Amalie Dietrich im Spannungsfeld zwischen Berufstätigkeit und Kinderbetreuung, Frauen in der Wissenschaft und nicht zuletzt auch um den Rückfall in veraltete Rollenmuster im Zuge der Corona-Pandemie.
Frau Veits-Falk, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit außergewöhnlichen Frauen. Wie bewerten Sie ganz allgemein das Leben von Amalie Dietrich?
Es gibt einige Lebensbereiche, wo sie ein typisches Muster bedient. Andererseits gibt es auch solche, wo aus einem vorherrschenden Schema hinausfällt. Das Erste, was sicher ganz ungewöhnlich für ihren weiteren Lebensweg ist, ist ihre Herkunft. Sie stammt aus einer armen sächsischen Heimarbeiter*innenfamilie. Mit dieser Unterschichtenherkunft unterscheidet sie sich stark von den ersten Frauen, die Ende des 19. Jahrhunderts dann auch tatsächlich studieren. Diese kamen mindestens aus bürgerlichem, meist aus bildungsbürgerlichem Milieu — und somit aus einem ganz anderen Umfeld.
Was sticht einer Historikerin an der Biografie von Amalie Dietrich sonst noch ins Auge?
Interessant ist, wie sie zu ihrer Ausbildung und ihrer Profession kommt – nämlich über ihren Mann. Es ist jetzt nichts Ungewöhnliches, dass Frauen als Stellvertreterinnen, Assistentinnen oder Gehilfinnen des Ehemanns fungieren. Das hat eine ganz lange Tradition. Dann macht Amalie Dietrich jedoch etwas ganz Bemerkenswertes: Sie ist so von der Botanik begeistert und bricht deshalb mit ihrer Stellvertreterinnen-Rolle. Ab diesem Zeitpunkt geht sie einen eigenständigen Weg. Ihre Ambitionen für dieses Fach sind so groß, dass es zum Konflikt mit dem Ehemann kommt. Ihre Tochter gibt Amalie Dietrich in Pflege, um entgegen allen Rollenbildern einer beruflichen und wissenschaftlichen Tätigkeit nachgehen zu können.
Das ist ein weiterer interessanter Aspekt ihrer Biografie. Denn um weiterhin ihre Sammelreisen unternehmen zu können, hat Amalie Dietrich ihr Kind des Öfteren zu Pflegefamilien gegeben, da ihr Mann sich nicht für die Kindererziehung verantwortlich fühlte. Wie hat die damalige Gesellschaft wohl auf solch eine Entscheidung reagiert?
Da gerät sie von außen natürlich in einen Konflikt mit der bürgerlichen Frauenrolle. Ihre Tochter wurde 1848 geboren, also Mitte des 19. Jahrhunderts. Das ist die Zeit, in der sich eine bürgerliche Familienideologie entwickelt: ein dualistisches Bild von den Geschlechtern, das auf einer Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit aufbaut. Die Frau wird auf das Mutter- und Hausfrauen-Dasein reduziert. Einerseits sind dies Rollenbilder, die quer durch die Gesellschaft – vom Bürgertum abwärts – identitätsstiftend waren. Andererseits wissen wir aber auch, dass es gerade in Unterschichten genügend Familien gab, wo die Kinder nicht bei den leiblichen Eltern aufwachsen konnten. Meistens aufgrund sozialer Umstände und aus Not. Wenn zu viele Kinder geboren wurden, dann wurde eines zu einer Pflegefamilie gegeben oder anderswo versorgt. Man denke in Österreich an die Geschichte der Ziehkinder, die bis ins 20. Jahrhundert hineingeht. Dass Amalie Dietrich ihre Tochter in Pflege gegeben hat, war im Prinzip – auch wenn es für uns heute so klingt – nichts völlig Ungewöhnliches. Wiewohl die Familienideologie etwas anderes vorgesehen hätte.
Nach dem Tod ihrer Mutter war Amalie Dietrich notgedrungen neben der Kindererziehung ebenso für die Haushaltsführung zuständig. Inwiefern zeigen sich hier die gesellschaftlichen Zwänge bzw. das vorherrschende Rollenbild der Frau, dass es an ihr liegt, diese Aufgabe zu übernehmen?
Es war quasi rollenimmanent, dass der Haushalt Sache von Frauen ist. In Österreich regelte das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch seit 1811, dass Frauen für den Haushalt und Männer für den Unterhalt verantwortlich sind. Und das sind ganz lange Muster, mit denen Frauen konfrontiert wurden. Erst durch die Familienrechtsreform von 1975 gibt es hierzulande die partnerschaftliche Ehe per Gesetz, welche Mann und Frau gleichermaßen dazu verpflichtet, Haushalts- und Familienarbeit zu übernehmen sowie für das Einkommen zu sorgen. Das muss man sich erst einmal vorstellen!
Bis dahin konnte ein Mann seiner Ehefrau unter anderem auch untersagen, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Was nicht heißt, dass es nicht vorher schon – in den 50er oder 60er Jahren – Paare gegeben hat, die sich ihre gemeinsamen Pflichten und Tätigkeiten anders aufgeteilt hätten. Das war auch eine individuelle Sache. Aber die Ausnahmen bestätigen immer die Regel.
Wann in etwa hat diesbezüglich ein Umdenken stattgefunden?
Erst ab den 1970ern hat man diese privaten Rollenzuschreibungen verstärkt reflektiert und darüber nachgedacht, ob der Haushalt wirklich nur Frauensache ist. Das beginnt mit der Neuen Frauenbewegung und den gesetzlichen Reaktionen darauf. Selbst für die Vertreterinnen der Alten Frauenbewegung im 19. Jahrhundert war klar, dass sie — und nicht ihre Männer — für den Haushalt verantwortlich waren. Sie forderten zwar mehr Rechte für Frauen ein, es wurde aber nie darüber diskutiert, ob sich nicht auch der Mann darum kümmern sollte, dass die Kinder versorgt sind und Essen auf dem Tisch steht. Das war undenkbar.
Wie Sie bereits zu Beginn angesprochen haben, stammt Amalie Dietrich aus einem einfachen Milieu und hat lediglich die Grundschule besucht. Ihr eigentliches Wissen hat sie erst später, durch ihren Mann angeeignet. Inwiefern bedient sie hier ein typisches Muster oder fällt aus diesem heraus?
Wissensvermittlung durch den Ehemann kam vor, aber viele Frauen, die später in der Wissenschaft tätig waren, haben sich ihre Kenntnisse autodidaktisch angeeignet. Es schaut einfach schlecht aus mit Möglichkeiten an höherer Mädchenbildung in dieser Zeit. Es gab natürlich überall eine Grundschulbildung für Buben und Mädchen, aber gerade an höherer Mädchenbildung, was gab es da? Staatliche höhere Mädchenschule existierten in Österreich bis auf ein paar Ausnahmen nicht. Es gab höchstens konfessionelle Schulen, die von weiblichen Schulorden geführt wurden. In Salzburg beispielsweise die Ursulinen, die schon seit 1695 bestehen. Ab 1848 gab es auch ein Erziehungsinstitut am Nonnberg, ebenfalls in kirchlicher Hand. Und da wurde auch wieder ein ganz spezielles, kirchlich bestimmtes Frauenbild vermittelt. Zudem gab es noch private Internate in Form von „höheren Töchterschulen“, die meisten davon in der Schweiz. Aber dann war schon „zammgramt“, würde man jetzt umgangssprachlich sagen.
Wenn die Eltern liberal eingestellt waren, konnte es auch sein, dass die Schwestern bei ihren Brüdern mitpartizipieren durften, wenn diese von Hauslehrern unterrichtet wurden. Oder aber die Töchter kamen durch die Väter selbst zur Wissenschaft. Das sehen wir beispielsweise oft bei Malerinnen oder Musikerinnen, die von ihren Vätern eine informelle Ausbildung erhielten.
Gibt es ungefähre Zahlen bzw. kann man ungefähr abschätzen, wie viele Frauen infolge einer höheren Mädchenbildung im 19. Jahrhundert tatsächlich studieren konnten?
Das war nur eine Handvoll Frauen. In Österreich konnten Frauen erst ab 1896 an der philosophischen Fakultät, ab 1900 an der medizinischen Fakultät und ab 1919 an der rechtswissenschaftlichen Fakultät studieren. Die Schweiz war in den 1860er Jahren, zuerst mit Zürich und dann auch mit Bern, das einzige deutschsprachige Land, in dem Frauen an Universitäten angenommen wurden. Auch da reden wir nur von einigen wenigen Frauen. Aber die hatten eine Pionierinnenrolle und waren die erste Generation, die gegen alle möglichen Vorurteile ankämpfen musste. Zudem mussten die ersten Studentinnen auch ihr eigenes Selbstverständnis verändern und befanden sich in einem Rollenkonflikt: Sie haben etwas gemacht, was bis dahin eigentlich nur Männer machen und Frauen nicht zugestanden wurde — sie studierten! Und sind damit in eine Männerdomäne vorgedrungen. Aber sie wollten nicht wie Männer sein, sie wollten trotzdem Frauen bleiben.
In Bezug auf die Sichtbarkeit ihrer Arbeit in der Wissenschaft: Wie lange hat es gedauert, bis man erkannt hat, dass Frauen ebenso in der Wissenschaft tätig sind und einen Beitrag zum Erkenntnisgewinn liefern?
Das hängt natürlich immer auch von einzelnen Fällen ab. Aber wenn wir heute zurückdenken, wie viele berühmte Wissenschaftlerinnen, Ärztinnen fallen da einem selbst ein? Ein Durchbruch in der Akzeptanz von weiblichen Wissenschaftlern hat sich erst in den letzten Jahrzehnten abgespielt. Ich denke jetzt konkret an die Corona-Pandemie, da gab es immer wieder Epidemiologinnen oder Expertinnen, die in den Medien Stellung bezogen haben. Noch vor 20 Jahren wäre die Expertise in der Pandemie sicherlich weitaus stärker männerdominiert gewesen.
Corona – da sind wir auch gleich beim Stichwort. Allgemein lässt sich feststellen, dass durch die Corona-Situation tendenziell Rückschläge für die Emanzipation von Frauen einhergegangen sind. Zum Beispiel war es laut einem Standard-Artikel vom Mai 2020 so, dass während des ersten Lockdowns in Doppelverdiener*innenhaushalten in 42 Prozent der Fälle die Mütter die Hauptverantwortung für die Kinderbetreuung getragen haben und in nur 23 Prozent die Väter. Wie bewerten Sie diesen Rückfall in alte Rollenbilder im Zuge der Corona-Pandemie?
Eine wichtige Erkenntnis aus der Beschäftigung mit Frauen- und Geschlechtergeschichte ist, dass Emanzipation oder Teilhabe oder auch, dass Frauen führende Positionen einnehmen, leider nie eine lineare Entwicklung ist, die nur nach oben geht. Es ist immer eine wellenförmige Entwicklung — wir brauchen uns nur die Geschichte des 20. Jahrhunderts ansehen. Und einmal errungene Rechte und Positionen müssen immer wieder fest verteidigt werden. Das sind keine Selbstläufer. Zusätzlich hängt es leider sehr von den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab.
Krisensituationen bringen oft wieder einen Rückfall in tradierte Rollenmuster. Ich kann mir das nur so erklären, dass dieser Aufbruch noch nicht so verinnerlicht und gefestigt ist, sondern dass Frauen und Männer in Krisenzeiten in ihre alten Rollen verfallen.
Auch in akademischen Kreisen fand während der Corona-Krise ein Rückfall in veraltete Rollenmuster statt, speziell was die Kinderbetreuung betrifft. So veröffentlichten Wissenschaftlerinnen laut einem Artikel der Fachzeitschrift Nature während der Corona-Zeit weniger Pre-Prints und starteten auch weniger Forschungsprojekte als ihre männlichen Kollegen, welche weniger mit der Kinderbetreuung beschäftigt waren. Inwiefern geht damit ein Rückschritt in der Forschung von weiblichen Wissenschaftlerinnen einher?
Das ist ein unerfreulicher, aber spannender Befund. Offensichtlich sind auch im Bereich der Wissenschaft diese tradierten Rollenmuster, auch wenn es einen Aufbruch gibt, noch immer im Hintergrund präsent. Denn sobald es zur Krise kommt, zeigt sich, dass Emanzipation noch nicht so gefestigt ist, dass Frauen auch ihre Position einfordern und sagen: „Moment, ich will mich genauso weiterentwickeln.“ Also wenn es gut läuft, dann funktioniert es – und wenn wir uns in einer Krise befinden, offensichtlich nicht. Und es sind, ich sage es einmal so, nicht nur die „bösen“ Männer, die die Frauen verdrängen. Es sind auch die Frauen, die automatisch gewisse Dinge übernehmen, weil es schon immer so war und man es zu wenig hinterfragt. Der erste Schritt ist, dass man diese Rollen reflektiert. Nur so kann man darauf reagieren.
Welche weiteren Schritte würden Sie sich für die Zukunft wünschen, mit denen man die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Gesellschaft fördern könnte?
Ganz wichtig ist meiner Ansicht, dass an dieser Bewusstseinsschaffung für bestehende Unterschiede gearbeitet wird. Und man vor allem auch darauf hinweist, dass diese Unterschiede nicht naturbedingt oder angeboren sind, sondern weitgehend historisch und kulturell gewachsen sind. Darin sehe ich auch ein bisschen meine Rolle als Historikerin.
Dann natürlich mit gesetzlichen Regelungen. Die Politik muss hier wieder massiv auf den Plan treten. Denn es braucht nach wie vor gezielte Frauenfördermaßnahmen, auch wenn viele glauben, dass sei Schnee von gestern oder etwas, das von militanten Altfeministinnen eingefordert wird. Die Quote ist kein gutes Instrument, aber ich wüsste kein besseres, um Frauen auch wirklich in Führungspositionen zu bringen. Die Politik muss wieder verstärkt auf Ungleichheiten schauen und sich konkretere Konzepte überlegen, wie dagegenzuwirken ist. Man muss insbesondere auch für Männer die Voraussetzungen schaffen, dass sie Arbeitsstunden reduzieren können, um verstärkt Familienarbeit und Kinderbetreuung übernehmen zu können. Außerdem muss diese Aufgaben in der Gesellschaft auch positiv besetzt werden. Man muss andere Arbeitsmodelle entwickeln und diese im Rahmen von Kampagnen propagieren. Denn es braucht einen strukturellen Umbruch, damit sich hier etwas bewegt.
Vielen Dank für das Interview!
Quellen:
Der Standard (2020): Corona-Krise: Hälfte der Mütter leidet unter Unvereinbarkeit von Job und Familie. Online unter: https://www.derstandard.at/story/2000117292589/corona-krise-haelfte-der-muetter-leidet-unter-unvereinbarkeit-von-job
Pusch, Luise (2021): Amalie Dietrich — Biografie. Online unter: https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/amalie-dietrich
Vigilione, Giuliana (2020): Are women publishing less during the pandemic? Here’s what the data say. Online unter: https://www.nature.com/articles/d41586-020–01294-90