Julian Assange ist Mitbegründer der Enthüllungsplattform Wikileaks. 2010 veröffentlichte die Plattform das Video „Collateral Murder“ und Tausende Geheimdokumente, die mutmaßliche Kriegsverbrechen der US-Armee dokumentieren. Heute sitzt Assange im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh bei London und soll, früher oder später, in die USA ausgeliefert werden. Was ist dazwischen passiert und wie hängen diese Dinge zusammen? Das erfahrt ihr in der ersten Folge unseres neuen Podcasts »Guter Punkt«.
Die Fakten:
1) Was Assange enthüllt
Im April 2010 veröffentlichte Wikileaks das Video „Collateral Murder“. Dieses zeigte u.a., wie in Bagdad im Irak unbewaffnete Menschen getötet wurden – darunter Reporter der renommierten Nachrichtenagentur Reuters. Die US-Regierung hatte zuvor behauptet, dass die Menschen bewaffnet gewesen seien.
In den Monaten danach wurden 100.000 Depeschen aus dem Irak-Krieg und 250.000 Depeschen des US-Außenministeriums (State Department) veröffentlicht. Insgesamt summieren sich die Depeschen auf 750.000.
Assange arbeitet mit mehreren großen Medien zusammen, um die Vergehen der US-Truppen öffentlich zu machen: Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen, das Töten von Zivilisten. Wikileaks arbeitet etwa mit der New York Times, Guardian und dem Spiegel zusammen. Die Veröffentlichungen sorgten weltweit für Schlagzeilen.
2. Wie ist Assange vorgegangen?
Assanges Quelle war die Whistleblowerin Chelsea Manning, die bei den US-Streitkräften als IT-Spezialistin gearbeitet hat. Sie spielte Wikileaks die Dokumente und Videos zu. Assange hat die Daten nicht nur entgegengenommen, er soll Manning auch aufgefordert haben, mehr Verstöße zu finden (im Chat: „curious eyes never run dry“). Er soll sie ermutgit haben, einen Passwort-Schutz zu umgehen. Assange nahm damit eine aktive Rolle ein, die Journalist*innen nicht einnehmen dürfen. Allerdings geht dieser Punkt in der Anklage der USA nicht klar hervor. Laut US-Journalist Glenn Greenwald (berichtete auch über Snowden-Leaks) hatte Assange Manning lediglich geholfen, sich unter einem anderen Usernamen ins IT-System des US-Militärs zu loggen, um seine Spuren zu verwischen. Das wiederum wäre die Pflicht von Journalist*innen: Quellen dabei helfen, unerkannt zu bleiben.
2) Der Weg nach Belmarsh
2010 werden Vergewaltigungsvorwürfe öffentlich. Julian Assange wird beschuldigt, eine Schwedin vergewaltigt zu haben.
Er setzt sich nach London ab. Assange wird vom Aufdecker und gefeierten Helden zum möglichen Vergewaltiger, der vor der Justiz flieht.
Nach einigem Hin&Her bekommt Assange im Jahr 2012 Asyl in der Botschaft Ecuadors, wo er bis 2019 bleiben kann. Dann entzieht ihm der nunmehrige Präsident Ecuadors, Lenin Moreno, das Botschafts-Asyl.
Mittlerweile gibt es eine Anklage der USA gegen Assange, nach dem besagten Espionage Act.
Kurz danach (2019) stellt die schwedische Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs ein.
Bei seinem Auszug aus der ecuadorianischen Botschaft wird Julian Assange verhaftet. Mittlerweile haben die USA einen Auslieferungsantrag gestellt. Ihm wird vorgeworfen, die nationale Sicherheit gefährdet zu haben, indem er an Geheimdienstinformationen gelangt ist und diese ohne Autorisierung veröffentlicht hat.
Die Auslieferung Assanges an die USA wurde schließlich Anfang Januar abgelehnt. Die Begründung: Die Richterin erkannte an, dass Assange in einem bedenklichen Gesundheitszustand ist und sich bei einer Auslieferung möglicherweise umbringen würde. Assange wird ein labiler psychischer Zustand aufgrund der jahrelangen Isolation nachgesagt. UN-Sonderberichterstatter, Nils Melzer. sprach von Anzeichen psychischer Folter. Die Auslieferungsgründe der USA hat die Richterin damit nicht abgelehnt.
Die USA haben angekündigt, in Berufung zu gehen. Beide Seiten können nun die nächsten Instanzen berufen. Zuletzt könnte das Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen. Das könnte für Assange noch viele Jahre der Ungewissheit und in Auslieferungshaft bedeuten.
3) Wird an Assange ein Exempel statuiert?
Um zu verstehen, warum das Thema so brisant ist, muss man nochmal zurückspringen ins Jahr 2010 (Schweden). Die offizielle Erzählung um die Vergewaltigungsvorwürfe war folgende: Im August 2010 zeigen zwei Frauen Julian Assange wegen Vergewaltigung an. Um der Justiz zu entkommen, setzt sich Assange nach London ab.
Durch UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer kam heraus: Eine der Frauen hatte Geschlechtsverkehr mit Assange – aber ohne Kondom. Sie wollte deshalb von der Polizei wissen, ob Assange zu einem HIV-Test gezwungen werden könnte. Als sie merkte, dass die Polizei was anderes daraus strickt, brach sie die Befragung ab. Melzer konnte den Ablauf auf Grundlage von Ermittlungsakten rekonstruieren, die er einsehen konnte. Als besonders brisant schildert Melzer eine E‑Mail eines Vorgesetzten der befragenden Polizistin. Er forderte sie auf, das Protokoll regelrecht umzuschreiben. Die Staatsanwaltschaft habe zuvor laut Melzer festgestellt, dass die Aussagen der Betroffenen glaubwürdig seien, aber es keine Hinweise auf ein Delikt gebe. Wenig später landeten folgende Schlagzeilen in der Presse: „Julian Assange der zweifachen Vergewaltigung beschuldigt.“
Diese Schlagzeile ging laut einem Bericht im Standard raus, bevor die zweite Frau wegen Vergewaltigung bei der Polizei aussagte. Assange hatte demnach gegen ihren Willen ohne Kondom mit ihr geschlafen. Nach schwedischem Gesetz ist das als Vergewaltigung zu werten. Laut Melzer waren ihre Aussagen allerdings widersprüchlich.
Assange erhielt vor seiner Ausreise aus Schweden die Erlaubnis der Staatsanwaltschaft. Später bot er mehrfach an, zu den Vorwürfen Aussagen zu wollen. Er bestand aber auf die Zusage, dass er nicht an die USA ausgeliefert wird, wenn er sich den Behörden für eine Aussage zur Verfügung stellt. Auf das Angebot Assangs ging die schwedische Staatsanwaltschaft nicht ein. Gleichzeitig drängte Großbritannien Schweden dazu, das Verfahren nicht einzustellen.
Bis 2019 wurde gegen Assange wegen der Vergewaltigungsvorwürfe ermittelt. Eine Anklage gab es nicht. Auf Kooperationsangebote wurde nicht eingegangen. UN-Sonderberichterstatter Melzer geht davon aus, dass die schwedische Justiz den Fall in der Schwebe halten (und nicht juristisch aufarbeiten) wollte. Erst im April 2019 erhoben die USA Anklage gegen Assange, weil er Geheimdokumente veröffentlichte.
Warum dauerte es so lange bis zur Anklage? Der Obama-Administration (2009–2017) wird nachgesagt, dass sie sich bewusst gegen eine Anklage entschieden hätte. Grund: Die Grenze zwischen dem, was Wikileaks und was klassische Medien wie die NY Times gemacht haben, ist so schmal, dass eine Anklage gegen Assange einer Anklage gegen Medien gleichkäme. Es wäre ein Eingriff in die Pressefreiheit. Obama scheute das. Deswegen kam es erst unter der Trump-Administration zur Anklage.
4) Hat Assange durch seine Leaks andere Menschen in Gefahr gebracht?
- Ein Argument gegen Assange lautet immer, dass er durch die (später auch ungeschwärzten Veröffentlichungen) Informanten und US-Truppen-Angehörige gefährdet hätte. Das untersuchende Gericht konnte aber nicht feststellen, dass durch den Leak von Chelsea Manning Menschen zu Schaden gekommen wären. Reporter ohne Grenzen berichtet aus dem Gerichtsverfahren in London, dass die USA erneut keine Beweise für die Gefährdung von Personen vorgebracht hätte. Die Sensibilität der Daten soll bei der Zusammenarbeit von Wikileaks mit Guardian, NY Times und Spiegel ein zentrales Thema gewesen sein, wie beteiligte Journalisten sagten.
- Dass die ungeschwärzten Dokumente im Netz landeten, lag offenbar an einem Fehler eines Guardian-Journalisten, der das Passwort versehentlich in einem Buch veröffentlichte.
- Die ungeschwärzten Dokumente stehen auch auf Cryptome.org, der Inhaber der Plattform wurde laut der Zeit aber nie dazu befragt.
Quellen:
Der Stanard (o.J.): Sie haben Informationen? Der anonyme Briefkasten des STANDARD steht für Sie bereit. Online unter: https://www.derstandard.at/story/2000104863898/der-standard-startet-den-anonymen-briefkasten
Frankfurter Allgemeine Zeitung (2016): Assange droht mit Veröffentlichungen zu Clinton. Online unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/julian-assange-droht-mit-veroeffentlichungen-zu-hillary-clinton-14424566.html
Güsten, Susanne (2020): Türkei fordert von Deutschland Auslieferung Dündars. Online unter: https://www.tagesspiegel.de/politik/mehr-als-27-jahre-haft-fuer-einen-zeitungsartikel-tuerkei-fordert-von-deutschland-auslieferung-duendars/26745350.html
Neuber, Harald (2021): Urteil gegen Julian Assange mit “bitterem Beigeschmack”. Online unter: https://www.heise.de/tp/features/Urteil-gegen-Julian-Assange-mit-bitterem-Beigeschmack-5002674.html
ORF (2021): Assange wird nicht an USA ausgeliefert. Online unter: https://orf.at/stories/3195983/
Pilkington, Ed (2013): Bradley Manning leak did not result in deaths by enemy forces, court hears. Online unter: https://www.theguardian.com/world/2013/jul/31/bradley-manning-sentencing-hearing-pentagon
Reporter ohne Grenzen (2020): Anhörung von Julian Assange: keine US-Beweise. Online unter: https://www.reporter-ohne-grenzen.de/pressemitteilungen/meldung/anhoerung-von-julian-assange-keine-us-beweise
Republik.ch (2020): c. Online unter: https://www.republik.ch/2020/01/31/nils-melzer-spricht-ueber-wikileaks-gruender-julian-assange
Rosner, Ortwin (2020): Wie die schwedischen Behörden die Vergewaltigungsanzeige gegen Julian Assange fälschten. Online unter: https://www.derstandard.at/story/2000114363431/wie-die-schwedischen-behoerden-die-vergewaltigungsanzeige-gegen-julian-assange-faelschten
Stark, Holger/Pohr, Adrian (2020): Was hat dieser Mann getan? Online unter: https://www.zeit.de/video/2020–02/6135104020001/julian-assange-was-hat-dieser-mann-getan
Süddeutsche Zeitung (2010): Wikileaks-Verdächtigem drohen 52 Jahre Haft. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/digital/anklage-vor-us-kriegsgericht-wikileaks-verdaechtigem-drohem-52-jahre-haft‑1.971241
„Guter Punkt“ ist der Podcast des FilesMagazin. Wir greifen jeden Monat ein Thema auf, das uns bewegt, aber sonst weitgehend wieder aus den Nachrichten verschwunden ist. Wir setzen auf Slow Journalism statt Breaking News und schauen uns an, was von Schlagzeilen von einst geblieben ist. Redaktion und Produktion: Konstantin Schätz, Maximilian Scheugenpflug und Florian Gann