Der Pflegenotstand ist nicht erst seit der Corona-Pandemie ein Thema. 2020 wurde den Pflegekräften applaudiert und öffentlich gedankt. An den Arbeitsbedingungen wurde aber nichts geändert. Die Gefahr ist ein gesundheitlicher Schaden.
Ein Jahr ist vergangen, seit man Worte wie „Lockdown“ und „Inzidenz“ das erste mal hörte. Bilder und Meldungen von überfüllten Intensivstationen gingen um die ganze Welt. Aus Südamerika wurde sogar von Massengräbern berichtet. Diese Bilder haben ebenso viele Menschen berührt wie die Unterstützung und Solidarität, die durch die Coronakrise sichtbar wurde. Durch massenhaftes Klatschen wurde die Dankbarkeit für diejenigen zum Ausdruck gebracht, die in der Krise Großes leisten mussten: die Pflegekräfte (auch wir berichteten). Doch was hat der gemeinschaftliche Applaus gebracht? Zumindest hat man sich selbst wohl für einen kurzen Moment besser gefühlt.
Es ist kaum mehr in einer Jahreszahl zu fassen, als das Thema des Pflegenotstandes erstmalig betitelt wurde. Man kann nur spekulieren, ob die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 2011 damit zusammenhängt. Zweifellos ist dies aber lange eine Möglichkeit gewesen, durch einen zivilen Ersatzdienst einmal in der Pflege zu arbeiten. Es gab die Gewissheit, dass jährlich einige Jugendliche in Pflegeberufe „schnuppern“ würden. Ein Teil davon blieb auch nach dem sogenannten “Zivi” da. Seitdem muss die Pflege um seinen Nachwuchs werben und kämpfen.
Privatisierung: Pflegeeinrichtungen werden Unternehmen
Das größere Problem liegt aber in der Finanzierung. Die Vorstellung, dass Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen für Alle und das soziale Wohl geschaffen sind, trifft schon lange nicht mehr zu. Viele Kliniken sind seit der zunehmenden Privatisierung (vor allem seit dem Jahr 2006) zu Privatunternehmen geworden. Damit orientieren sie sich an einem kapitalistischen Denken. Kosten und Nutzen, Soll und Haben: das bestimmt die Krankenhäuser, die allesamt Milliardenumsätze erwirtschaften sollen. Vor dieser Entwicklung warnte das Ärzteblatt und die Bundesärztekammer schon im Jahr 2007.
In Deutschland sind die „Helios-Kliniken“ des Unternehmens „Fresenius“ Spitzenreiter in den Umsätzen mit 6 Milliarden Euro jährlich. „Asklepios“ und die „Sana-Kliniken“ folgen mit einem Umsatz von jeweils 3 Milliarden. Unternehmen wie Krankenhäuser müssen sich rechnen — und bis 2019 war das nicht sonderlich schwer.
Einerseits gab es bis dahin keine gesetzlichen Vorgaben bzeüglich Personal. Das Gehalt des Pflegepersonals konnte strategisch kalkuliert werden. Klarer ausgedrückt: Personalkosten wurden eingespart, Gewinne für die Unternehmen erzielt. Auf der anderen Seite gab es die sogenannten Fallpauschalen. Hier wird zwischen ertragreichen Patient*innen und zwischen denjenigen unterschieden, die eher Kosten verursachen und keinen Gewinn abwerfen. Zugespitzt würde das bedeuten, dass bald Jede*r ein neues Hüftgelenk hat, die Blinddarmoperation aber auf der Strecke bleiben muss. Die zu behandelnde Person wird zeitnah entlassen – ungeachtet des Heilungsprozesses.
Personaluntergrenze — die andere Seite der selbe Medaille
2018 wurde der erste Schritt unternommen, um der Fallpauschale entgegenzuwirken. Es wurden sogenannte “Pflegepersonaluntergrenzen” gesetzt. Dadurch sollte geregelt werden, dass maximal 2,5 Patient*innen auf eine Pflegekraft kommen darf. Solche Grenzen sind erste handfeste Maßnahmen. Allerdings ist diese Personaluntergrennze nicht flexibel. Verstößt ein Klinikum dagegen, so drohen Strafen. Das klingt zwar zunächst sinnvoll, es kann aber dazu führen, dass ein Klinikum keine weiteren Patient*innen mehr aufnimmt. Es ist die zweite Seite der gleichen Medaille.
Die Corona-Pandemie war freilich ein unvorhersehbares Ereignis für Krankenhäuser. Ees wird applaudiert für die Arbeit, die die Pflegekräfte leisten. Genauer muss es heißen: die sie unter diesen Bedingungen leisten müssen. Die Missstände wurden nun klar und für alle ersichtlich. Es fehlt an Personal und die Arbeitsbedingungen sind katastrophal. Doch selbst als diese Arbeit in den Fokus gerückt wurde, hat sich nichts geändert. Keine neu angesetzten Verhandlungen über die Bedingungen, keine Aussicht auf Besserung und keine Boni – der deutsche Bundestag hat geklatscht.
Joko und Klaas weisen auf die Probleme hin
Jüngst haben die Moderatoren Joko Winterscheidt und Klass Heufer-Umlauf auf dem Sender ProSieben den Pflegenotstand in die Primetime gebracht. Eine Sieben-Stunden-Schicht einer Intensivpflegerin am Klinikum Münster wurde ungeschnitten gezeigt.
Auch andere Pflegekräfte wurden immer wieder eingespielt und wiesen auf die Situation hin und berichteten aus ihrem Alltag. All diese Leute arbeiten gerne in ihren Bereichen und an und mit Menschen. Selbst jetzt fordern sie nicht mal mehr Gehalt. Bessere Arbeitsbedingungen wären für sie schon genug. Das muss thematisiert werden und deutlich werden. Sie können schließlich nicht einfach demonstrieren und ihre Arbeit niederlegen. Diese Forderung sollte selbstverständlich werden. Im Gegensatz zu einer Arbeit, die eben nicht selbstverständlich ist. Das Wohl der Patient*innen meint auch das Wohl der Pflegekräfte. Klatschen ist da keine Lösung.
Quellen:
Ärzteblatt.de (2021): Echzeit-Doku: „Gut, dass die Pflege jetzt in der Primetime läuft“. Online unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/sw/Pflegenotstand?s=&p=1&n=1&nid=122632
Ärzteblatt.de (2019): Pflegepersonaluntergrenzen führen zur Abseknung des Personalschlüssels. Online unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/103814/Pflegepersonaluntergrenzen-fuehren-zu-Absenkung-des-Personalschluessels
Britzelmeier, Elisa (2021): “Ich bin die, die der Mama ihr totes Baby aus dem Arm nimmt”. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/medien/joko-klaas-nichtselbstverstaendlich-prosieben‑1.5253017
Deutscher Bundestag (o.J.): Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht beschlossen. Online unter: https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2011/33831649_kw12_de_wehrdienst-204958
Hans Böckler Stiftung (2021): Arbeitsbedingungen in der Pflege. Online unter: https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-zahlen-und-studien-zum-pflegenotstand-und-wege-hinaus-17962.htm
praktischArzt (2020): Privatkliniken Deutschland Ranking: das sind die größten Klinikverbünde. Online unter: https://www.praktischarzt.de/magazin/ranking-groesste-klinikverbuende/
Rotter, Nico (2020): Kleidungswechsel im Minutentakt. Online unter: https://filesmagazin.com/gesellschaft/kleidungswechsel-im-minutentakt/
ZDF (2020): Massengräber für Corona-Tote ausgebhoben. Online unter: https://www.zdf.de/nachrichten/heute-sendungen/videos/massengraeber-corona-tote-brasilien-100.html
Zeit Online (2018): Pflegekräfte können ab 2019 Mindestbesetzung verlangen. Online unter: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018–10/pflegepersonal-staerkungsgesetz-jens-spahn-personaluntergrenzen-pflege
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