Regenbogenfahnen, der Kniefall der Fußballspieler und die Reaktionen auf ein weinendes Mädchen lassen tief blicken in das Europa 2021. Wir werden Zeugen von Solidarität und Mitgefühl ebenso wie von tiefverwurzelter Fremdenfeindlichkeit und Homophobie. Die diesjährige Europameisterschaft wird von “politischen Zeichen”, Skandalen und Protestaktionen dominiert.
Symbolik umgibt die knapp 13.000 Zuschauerinnen und Zuschauer in der Allianz Arena. Sie feiern, trinken und fiebern dem Spiel entgegen, das in wenigen Momenten angepfiffen wird. Die Pandemie ist vergessen. Die Regenbogen-Banden von VW, in denen für Emissionsreduktion geworben wird (“Way to Zero”) und die Werbung des russischen Gasunternehmens Gazprom geben sich alle paar Sekunden die Klinke in die Hand. Die Ironie nimmt schon lange niemand mehr wahr. Man wartet auf den Pfiff des Schiedsrichters, der eines der schönsten Spiele dieser EM eröffnen wird. Doch kurz vor Beginn lassen sich die Spieler auf die Knie sinken. Die belgische Nationalmannschaft kniet und Italien mit ihnen — so wie viele Mannschaften zuvor in dieser EM. Es ist eine Symbolik, die in einer Fußball-Europameisterschaft im Jahre 2021 eigentlich nicht mehr notwendig sein sollte. Doch sie ist es.
Der Kniefall von Wembley
Es ist ein Zeichen gegen Rassismus, das in dieser Form auf den US-amerikanischen Football-Spieler Colin Kaepernick zurückzuführen ist. Der ehemalige Quarterback kniete sich im Jahr 2016 während der Nationalhymne hin. Es war eine Geste gegen Polizeigewalt, denen vor allem Afroamerikaner*innen in den USA häufig ausgesetzt sind. Demonstrantinnen und Demonstranten der #BlackLivesMatter-Bewegung übernahmen diese Kaepernick-Geste. Donald Trump (ihr erinnert euch: das war der US-amerikanische Präsident, von dem man sich während seiner Legislatur erhoffte, dass er sich als Satire-Aktion herausstellt) beschimpfte Kaepernick und alle NFL-Spieler, die es ihm gleichtaten.
Fünf Jahre nach der Geste, die Kaepernick seine Karriere kostete, wird erneut über den Kniefall diskutiert. Als sich das englische Fußballteam als erste Mannschaft in dieser EM vor dem Spiel gegen Kroatien hinkniet, sind Pfiffe und Buhrufe zu hören. Ausgerechnet von ihren eigenen Fans. Eine Diskussion über Rassismus bricht auf der Fußballinsel aus. Der englische Premierminister Boris Johnson erklärte kleinlaut, dass jeder das Recht habe zu demonstrieren und man die eigenen Spieler nicht ausbuhen solle. Das war alles. Keine Standpauke, kein ausführliches Statement, keine Belehrung, dass viele englische Spieler selbst aus Familien kommen, die nach England eingewandert sind. Das “Museum of Migration” führte genau das mit einer Grafik eindrucksvoll vor Augen: “Ohne Spieler, bei denen mindestens ein Eltern- oder Großelternteil im Ausland geboren wurde, würde England nur noch aus drei Spielern bestehen”, heißt es in dem Tweet.
Without players with at least one parent or grandparent born overseas, #England would be down to just 3 players. And if you trace the families of almost all the #ThreeLions squad back further, you’ll find stories of migration https://t.co/nJdHBrKaaP #FootballMovesPeople #ENGGER pic.twitter.com/UGBfG5tFKP
— Migration Museum (@MigrationUK) June 29, 2021
Die Geste der EM
In den darauffolgenden EM-Spielen wird der Kniefall immer wieder zum Thema. Im Spiel Belgien gegen Russland knieten die “roten Teufel” und sogar der Schiedsrichter Antonio Mateu Lahoz nieder. Die russische Mannschaft blieb stehen. Als sich im Spiel Wales gegen Italien sechs Spieler der Squadra Azzurra nicht an der walisischen Geste beteiligten, hagelte es Kritik. Die sechs Spieler wurden in sozialen Netzwerken zum Teil als Rassisten bezeichnet. Die italienische Fußballspielervereinigung AIC verwehrte sich gegen diesen Vorwurf. Im Spiel Belgien gegen Italien knieten sich dann alle Spieler hin, um ein Zeichen zu setzen.
Regenbogen-Gate in München
Knapp eineinhalb Wochen vor dem Spiel Belgien gegen Italien kämpft Deutschland um den Einzug ins Achtelfinale. An diesem letzten Tag der Gruppenphase war die ungarische Mannschaft zu Gast in der Allianz Arena. Thematisiert wurde im Vorfeld allerdings nicht das Fußballspiel, sondern die Beleuchtung der Arena. Anlässlich eines homophoben Gesetzes, das der ungarische Staatspräsident Viktor Orban erlassen hatte, wollte die Stadt München die Arena in den Regenbogenfarben erstrahlen lassen. Es sollte ein Zeichen der Verbundenheit und Solidarität mit der LGBTQ+ Szene sein. Ein Zeichen dafür, dass man sich für die Menschen stark macht, deren sexuelle Orientierung von der “heterosexuellen Welt” abweicht.
Am Abend vor dem Spiel gibt die UEFA dann die Entscheidung bekannt: Regenbogenfarben? Nope, won’t happen! Die UEFA sei eine politisch und religiös neutrale Organisation. Die Enttäuschung über diese Entscheidung war groß. Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder bedauerte die Entscheidung. Der Münchner Bürgermeister Dieter Reiter zeigte sich in einer Pressekonferenz kämpferisch und teilte mit, dass man sich nicht abhalten lassen werden, ein deutliches Signal zu senden:
Eine Stadt unterm Regenbogen und ein beleidigter Präsident
Zwar wurde die Allianz Arena nicht beleuchtet, dafür aber alles andere: Das Windrad in Fröttmaning direkt neben der Arena erstrahlte ebenso wie der Olympiaturm in Regenbogenfarben. Das Rathaus in München wurde beflaggt — ebenso wie viele Fans, die sich vor dem Stadion eine Fahne zulegten. Ein Flitzer brachte den Regenbogen sogar während der ungarischen Nationalhymne auf den Rasen. Einige Unternehmen beleuchteten ihre Gebäude oder änderten ihr Logo in Social-Media-Kanälen. Seit dem Spiel Ungarn gegen Deutschland ist am Spielfeldrand eine regenbogenfarbene Werbung von Volkswagen zu sehen. Auch in der österreichischen Hauptstadt Wien sollen zahlreiche Gebäude um die ungarische Botschaft herum mit Regenbogenflaggen beschmückt worden sein.
Viktor Orban sagte die geplante Reise nach München ab. In Richtung deutsche Politik mahnte er, dass die Entscheidung, ein Fußballstadion in Regenbogenfarben zu beleuchten, keine staatliche Entscheidung sei. Außerdem seien Regenbogenfahnen auch ein Bestandteil des Straßenbildes in Budapest, teilte er mit. Der leicht beleidigte Unterton, dass diese freche Frevelei der dreisten Deutschen eh nicht geklappt hätte, ist kaum zu überlesen.
Die Entscheidung der UEFA und auch die Begründung konnten viele Menschen indes nicht nachvollziehen. Klaas Heufer-Umlauf, Thomas Schmitt und Jakob Lundt äußerten in ihrem Podcast “Baywatch Berlin” ihr Unverständnis über die Entscheidung. Schließlich sei Sexualität grundsätzlich nichts Politisches. Ein Zeichen wie die Regenbogenfahne zeigen zu dürfen, sei demnach auch keine politische Entscheidung.
Der Regenbogen: ein politisches Zeichen?
Die UEFA selbst scheint sich in der Angelegenheit nicht ganz sicher zu sein. Nach ihrem Verbot in Richtung Allianz Arena färbte der Fußballverband das eigene Logo in Regenbogenfarben ein. Viele wunderten sich daraufhin, weshalb dies nicht als politische Aktion gewertet wird und wieso sie dadurch nicht gegen ihren eigenen Kodex verstoßen. Der Dachverband teilte daraufhin mit, dass die Fahne grundsätzlich kein politisches Symbol sei, sondern ein Zeichen des “Engagements für eine vielfältigere und integrativere Gesellschaft”. Der UEFA-Präsident, Aleksander Ceferin, erklärte in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt aber, dass es sehr wohl politisch sei, wenn durch das Einfärben des Stadions gegen ein anderes Land protestiert werden soll. Bleibt die Frage: Ist es demnach nicht auch politisch, wenn man nach dieser Diskussion das eigene Logo in Regenbogenfarben schmückt?
Das Mädchen in London
Deutschland überstand die Gruppenphase knapp. Im Regenbogenspiel gegen Ungarn gelang ihnen in der 84. Minute das ausgleichende Tor. Es reichte für den Einzug ins Achtelfinale. Ein Fußballkrimi gegen Brexit-Island. Bei vielen Fans dürften sich Bilder von enttäuschten Spielern und verpassten Chancen aufdrängen, wenn sie an das Spiel im Wembley-Stadion erinnert werden. Eines dieser Bilder hat sich allerdings nicht nur in die Köpfe der Fußballfans eingebrannt. Es fand auch den Weg in Soziale Netzwerke und entblößte ein anderes Gesicht der EM – fernab von einem fairen Sportereignis.
Ein junges Mädchen im Deutschlandtrikot und mit Deutschlandflaggen im Gesicht drückt sich an ihren Vater. Es weint. Es wendet ihr Gesicht von dem ab, was gerade auf dem Feld passiert ist. Leidenschaftlichen Deutschlandfans spricht der Anblick aus der Seele. Die Enttäuschung über die Niederlage gegen England und das frühe Ausscheiden ist groß. Es ist nur ein kurzer Moment, in dem das weinende Mädchen auf der Leinwand im Wembley-Stadion und im TV zu sehen ist. Ein kurzer Moment, der allerdings für ein paar englische Fußballfans ausreicht, um das Mädchen zum Sinnbild des Triumphs gegen Deutschland zu machen.
Das Nazi-Bild ist geblieben
“Deutscher Schlappschwanz” oder “heul doch du kleiner Nazi” ist unter dem Bild des deutschen Mädchens auf Twitter von einigen englischen Fans zu lesen. Vor allem der Bezug zu Nazideutschland wird immer wieder hergestellt. Es sind nur wenige Kommentare. Der Inhalt wiegt aber umso schwerer. Viele Engländerinnen und Engländer wollen dieses Bild von englischen Fans nicht auf sich sitzen lassen. Der ehemalige englische Fußballprofi Stan Collymore machte auf die geschmacklosen Kommentare aufmerksam und verurteilte dieses Verhalten. Joel Hughes, ein Wales-Fan wurde auf den Tweet von Collymore aufmerksam und beschloss eine Spendenaktion einzurichten.
Eigentlich wollte er nur 500 Pfund für das deutsche Mädchen sammeln und damit ein Zeichen setzen, dass nicht “jeder im Vereinigten Königreich schlimm ist”. Am Ende sammelte er mit seinem Crowdfunding-Aufruf 36.166 Pfund (rund 42.000 Euro) für das Mädchen. Gegenüber dem walisischen Nachrichtendienst Nation.Cymru sagt Hughes:
“Ich denke, diese Art von Fremdenfeindlichkeit ist seit dem Brexit schlimmer geworden und wird von der britischen Regierung geradezu gefördert. Ich wollte deshalb eine Kleinigkeit tun. Es wird nicht die Welt verändern oder die Meinung derer, die böses Zeug über das kleine Mädchen geschrieben haben. […] Aber wenn es bedeutet, dass wir ein Lächeln auf das Gesicht des Mädchens zaubern können, dann ist der Job erledigt.” ( Joel Hughes)
Nachdem die Crowdfunding-Aktion beendet war, bat das Mädchen Joel Hughes darum, den Betrag an Unicef zu spenden. Seine Freundlichkeit werde dadurch etwas Gutes bewirken, ließ sie dem Spender mitteilen.
Was letztlich bleibt von der Europameisterschaft
Als sich die belgischen und italienischen Spieler erheben und der Ball in der Mitte des Spielfeldes positioniert wird, denkt kaum einer mehr an den Kniefall, der Rassismus offenlegte. Die Regenbogenfarben auf der Bande am Spielfeldrand verschwinden ebenso schnell wie die Diskussionen um Homophobie im Herzen Europas. An die Reaktionen auf das weinende Mädchen, die tieferverwurzelte Fremdenfeindlichkeit offenlegten, denkt sowieso keiner mehr, wenn das erste Tor gefallen ist.
Italien schlägt Belgien in diesem Spiel. Nachdem die Squadra Azzurra auch Spanien im Halbfinale schlug, ist klar, dass sie im Finale gegen England stehen, die sich gegen die Ukraine und Dänemark behaupten konnten. Zwei Fußballnationen stehen also im Finale der Europameisterschaft 2021. So weit so un-überraschend. Es ist das Rundherum, das überrascht, das uns Angst machen sollte und die Protestaktionen, die uns gleichzeitig wieder hoffen lassen. Auf die Weltmeisterschaft 2022 in Katar dürfen wir jedenfalls gespannt sein.
Quellen:
Der Spiegel (2021): Familie von weinendem Mädchen gibt über 36.000 Pfund an Unicef weiter. Online unter: https://www.spiegel.de/sport/fussball/em-2021-spendenkampagne-familie-von-weinendem-maedchen-gibt-ueber-36–000-pfund-an-unicef-weiter-a-c8c1a70c-bf72-4a0f-8d9c-190afeb4923c
Eurosport (2020): Vier Jahre nach dem Kniefall: “Gebt Colin Kaepernick seinen Job zurück”. Online unter: https://www.eurosport.de/american-football/nfl/2020–2021/vier-jahre-nach-dem-kniefall-gebt-kaepernick-seinen-job-zuruck_sto7773035/story.shtml
Fischer, Sebastian (2021): Russland bleibt stehen. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/sport/belgien-russland-em-2021-fussball‑1.5320739?reduced=true
Krasvoic, Tom (2016): Colin Kaepernick takes a knee during national anthem in San Diego and is booed. Online unter: https://www.latimes.com/sports/nfl/la-sp-chargers-kaepernick-20160901-snap-story.html
NTV (2021): “Kein politisches Symbol” - UEFA ändert Logo in Regenbogenfarben. Online unter: https://www.n‑tv.de/sport/fussball-em/UEFA-aendert-Logo-in-Regenbogenfarben-article22638893.html
Röhn, Tim (2021): Uefa-Chef Aleksander Ceferin: „Sorry, aber das geht nicht“. Online unter: https://www.welt.de/sport/fussball/em/plus232038625/Regenbogen-Verbot-Jetzt-spricht-Uefa-Praesident-Aleksander-Ceferin.html
Rüb, Matthias (2021): Der Streit um den Kniefall spaltet Italien. Online unter: https://www.faz.net/aktuell/sport/fussball-em/kniefall-vor-em-spielen-streit-um-geste-spaltet-italien-17418822.html
Süddeutsche Zeitung (2021): Eine Stadt unterm Regenbogen. Online unter: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/em-muenchen-regenbogen-protest-bilder‑1.5331027
Ulrich, Wolf-Christian (2021): Aufklärung über LGBT verboten — Ungarns Parlament billigt homophobes Gesetz. Online unter: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ungarn-orban-anti-ltgbq-gesetz-100.html
Weidenfeller, Mark (2021): Kniefall sorgt für Zündstoff in England. Online unter: https://www.sportschau.de/fussball/uefaeuro2020/kniefall-england-protest-em-100.html
Zeit Online (2021): Viktor Orbán sagt Reise zum Länderspiel in München ab. Online unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021–06/viktor-orban-em-2021-ungarn-lgbtq-regenbogenflagge-muenchen
Bild: Konstantin Schätz